Menschen, in der Regel immer noch Männer, machen Geschichte? Die heutige Historiographie und Soziologie geht mit solchen lange Zeit akzeptierten „Naturgesetzen“ äußerst vorsichtig um. Der Blick richtet sich heutzutage auf das Gesamte, betrachtet die Vielzahl an aktiven (und passiven) Personen, analysiert die Interaktionen und die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen, um dann ein Gesamtbild zu zeichnen – historisch-soziologischer Pointilismus sozusagen.
Es ist jedoch nicht zu leugnen, dass Einzelpersonen, selbstverständlich eingebettet und determiniert in die jeweiligen zeitlichen Umstände und Bedingungen, Entwicklungen auch anstoßen und vorantreiben, aber auch verlangsamen und abwürgen können. Das gilt für alle Felder unserer globalen Gesellschaften, gleich ob diese vom Standpunkt eines „zoon politikon“, also eines sozialen und gesellschaftlichen Wesens, oder eines „homo oeconomicus“, eines rein nach Nützlichkeitsaspekten handelnden Menschen, betrachtet werden. Griechen (hier insbesondere Aristoteles) auf der einen sowie Römer und einige Wirtschaftswissenschaftler auf der anderen Seite stehen sich scheinbar diametral gegenüber, sind sie aber nicht vielmehr die zwei Seiten einer Medaille?
Obi ist in seiner 50-jährigen Geschichte rund 47 Jahre von zwei Führungspersönlichkeiten geprägt worden (Harald Lux verzeihe mir, dass ich ihn trotz seiner unzweifelhaft großen Verdienste für Obi nicht mit berücksichtige), nämlich von Manfred Maus und Sergio Giroldi. Allein dieser lange Zeitraum ist für ein Unternehmen von dieser Größe erstaunlich und erwähnenswert. Wer würde bestreiten, dass beide Obi maßgebliche Impulse gegeben haben? Manfred Maus als Gründer und Obi-Chef über 30 Jahre, Sergio Giroldi als Erneuerer und CEO über aktuell 17 Jahre (ein paar Jahre werden wohl noch dazu kommen).
Die Bilder beider Personen in der Öffentlichkeit sind jedoch vollkommen verschieden. Da der scheinbar stets joviale, kommunikationsstarke und immer von Ideen sprudelnde Unternehmensgründer, dort der eher sachliche, strategisch orientierte und etwas distanziert auftretende Nachfolger. Doch werden diese Phänotypen der beiden Personen ihnen auch tatsächlich gerecht?
Ich habe mit Maus und Giroldi praktisch seit meinem journalistischen Einstieg in die Baumarktbranche zu tun. In den vergangenen über 20 Jahren hatte ich mit beiden zahlreiche Treffen, Gespräche und Interviews, traf sie häufig auf Kongressen und bei Presseterminen, telefonierte und mailte mit ihnen. Zur Recherche für das Jubiläumsbuch „50 Jahre Obi – Eine Reise durch das Obi-Wunderland“ wurden die Kontakte noch einmal intensiviert. Zig Stunden Tonmitschnitte unserer Gespräche waren die Folge.
Und je mehr ich die Chance hatte, Maus und Giroldi noch näher kennenzulernen, desto mehr kamen mir Zweifel: Sind beide wirklich so vollkommen voneinander verschieden? Natürlich: Hier Manfred Maus als Südbadener, geboren 1935 in Gottmadingen im Hegau, der frühzeitig bereit ist, als Anteilseigener bei Lux auch unternehmerisch tätig zu sein, dort Sergio Giroldi, der 1955, also rund 20 Jahre später, im norditalienischen Ghemme das Licht der Welt erblickte und der als Manager über Campari zu Obi kam. Auf der einen Seite Maus, sozialisiert in der deutsch-schweizerischen Grenzregion mit direkter Anbindung zum größten See Deutschlands, dem Bodensee, und den dortigen Weinen sowie mit seinen Kindheitserinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, auf der anderen Seite Giroldi, geprägt vom „miracolo economico“ (Wirtschaftswunder, das Italien ebenso erlebte wie Deutschland) und von der Region Piemont, die ja auch eine Weinregion ist und wo die Distanz zum Lago di Garda (Gardasee), dem größten See Italiens, geringer ist als nach Mailand.
Manfred Maus entscheidet sich, Mitte der 1950er-Jahre nach einer Ausbildung in einer Eisenwarenhandlung in Wuppertal Betriebswirtschaft zu studieren. Sergio Giroldi studiert Bauingenieurswesen. Beide wachsen in einem katholisch geprägten Umfeld auf, beide sind gläubig, Maus trägt seinen Glauben aber stärker nach außen als Giroldi, Maus präsentiert sich als ein katholischer Unternehmer, ein Gedanke, auf den Giroldi nie käme.
Das mag auch damit zu tun haben, dass der Eine (Maus) eher extrovertiert ist, der Andere (Giroldi) eher introvertiert. Machtmenschen und Egozentriker sind sie aber beide. Kein Wunder, denn ohne eine gehörige Portion Ego gelangt man erstens nicht an die Spitze von solch großen Unternehmen und man hält sich dort zweitens auch nicht über eine so lange Zeit. Die unbedingte Konsequenz im eigenen Handeln verbindet wohl beide.
Beide stehen oder standen Obi über Jahrzehnte vor. Manfred Maus ist der „spiritus rector“ von Obi, die treibende Kraft in den ersten drei Jahrzehnten. Er ist quasi Geburtshelfer und ständiger Antreiber in einem. Sergio Giroldi wiederum ist derjenige, der eher als Zuchtmeister tätig war und ist, der aber das Potenzial von Obi in Zeiten erkannte, als Tengelmann seine Tochter lieber verhökern wollte. Giroldis Mitarbeiter berichten aber davon, wie groß ihre Spielräume seien und wieviel Eigenständigkeit sie hätten. Mag sein, dass bei Manfred Maus die Tür zu seinem Büro für die Mitarbeiter der Zentrale in Wermelskirchen offener war, bei Giroldi wird dagegen dessen Verlässlichkeit geschätzt.
Maus und Giroldi zeichneten und zeichnen für Obi in nicht vergleichbaren Epochen verantwortlich. Wäre der Eine auch so erfolgreich wie der Andere gewesen, wenn beide ihre Rollen und aktiven Zeiten getauscht hätten? Ich habe da meine Zweifel. Jede Zeit sucht sich ihre passenden Akteure. Dennoch gibt es eine Kernthese, die ich in meiner kurzen Rede an die Obianer zum 5. November 2020, dem 50. Jahrestag der Eröffnung des ersten Obi-Marktes in Hamburg-Poppenbüttel, an den Schluss stellte: „Der eine, engagierter deutscher Katholik, hat für mich eine starke südländische Ader, der andere, ein eher zurückhaltender italienischer Katholik, hat wiederum fast deutsche Züge. Ach, wie schön ist Europa!“
Dr. Joachim Bengelsdorf