Editorial

Die Welt - ein Dorf

Es gab und gibt Zeiten, in denen man das Gefühl hat, unbesiegbar zu sein, dass die Welt einem zu Füßen liegt und dass einem keine Grenzen gesetzt werden. Alles ist offen, ist groß und weit. Und dann genau das Gegenteil: Plötzlich ist alles klein, eng, ja gefährlich. Oft schwanken wir zwischen den Extremen des Globalen und des Dörflichen, wenn wir unsere Umgebung einschätzen, unsere Chancen bewerten, in die Zukunft blicken.Dass die Welt ein Dorf ist, ist zuerst einmal ein Toponym, das aus der Medientheorie stammt. Bereits 1962 wurde nämlich prog­nostiziert, dass die Welt sich von der Gutenberg-Galaxis (= Buch) zu einem globalen Dorf (= elektronische Vernetzung) ent­wickeln werde. Jeder ist mit jedem vernetzt, Daten werden in Echtzeit ausgetauscht, der Ort, an dem ich mich gerade aufhalte, ist eigentlich irrelevant (außer aus touristischem Interesse etc.).Doch der Begriff des "Global Village" hat sich zwischenzeitlich über den Bezug zu den Medien weit hinausentwickelt. "Globalisierung" ist de facto ein wirtschaftliches und soziales Synonym für das mediale Phänomen des globalen Dorfes. Und auch hier schwanken wir bei unserer Einschätzung, wie wir die Globalisierung empfinden, zwischen Fluch und Segen. Viele Entwicklungen kommen uns zwar einerseits zugute und empfinden wir als positiv (preiswerte Elektronik aus Asien, Lebensmittel aus Südamerika, Urlaub in Neuseeland), doch andererseits registrieren wir erschrocken, dass deshalb bei uns auch Stellen abgebaut werden, dass wir plötzlich genmanipulierte Agrarprodukte anbauen müssen, dass Afrika an die europäische Tür klopft.Dass alles näher und mehr zusammen rückt, dass gleichzeitig auch vieles fragiler und empfindlicher wird, erfahren augenblicklich aber auch all diejenigen der europäischen Baumarktbetreiber und DIY-Lieferanten, die sich in Osteuropa engagieren. Da drohen über Nacht plötzlich ganze Länder weg-zubrechen. Dass die Ukraine (und demnächst Weißrussland und Moldau?) Probleme hatte, war an sich keine Überraschung. Doch mit der politischen Gemengelage im Land selber und mit dem großen "Bruderantagonisten" Russland stellt sich die Situation dramatisch und unsicher dar.Und dann natürlich Russland selber. Geht die Stabilität perdu? Gibt es Boykottmaßnahmen westlicherseits und antwortet Russland darauf? Sind die Investitionen in Moskau und St. Petersburg noch sicher? Plötzlich wird es ungemütlich in dem Dorf, das doch tatsächlich gar kein Dorf ist. Denn was so nah scheint, ist in Wirklichkeit fremd und fern und man wünscht sich fast die bundesrepublikanische Gemütlichkeit zurück.
Dr. Joachim Bengelsdorf
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