Ob Manfred Maus und Emil Lux Ende der 1960er-Jahre wussten, wie sich das Unternehmen entwickeln würde, das sie gerade am Gründen waren? War ihnen klar, dass Heimwerken, Do-it-yourself in den folgenden Jahrzehnten eine beispiellose Entwicklung nehmen würde, dass deutsche Baumarktbetreiber eine beeindruckend nationale und internationale Expansion hinlegen würden – und mit ihnen eine ganze Zulieferindustrie, Dienstleister und Berater? Wohl kaum.
Was da am 5. November 1970 in Hamburg bei typischem hanseatischem Schmuddelwetter geschah, nämlich die Eröffnung des ersten Obi-Marktes überhaupt, wurde von der Öffentlichkeit ja nicht als der Baumarkt-Urknall in Deutschland wahrgenommen. Namhafte, inzwischen noch existente, teils zwischenzeitlich eliminierte Baumarktketten erhoben den nicht ganz unberechtigten Anspruch, hier Erster gewesen zu sein. Bauhaus beispielsweise, das in diesem Jahr ja seinen 60. Geburtstag feierte (siehe Beilage in diy 11/2020). Oder Hornbach und Max Bahr. Die „Viererbande“ Baus, Hornbach, Möhrle und eben Maus kannte sich von diversen Reisen zur Hardware Show nach New York Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre. Mag sein, dass Obi vielleicht erst als vierter Baumarktbetreiber stationär an den Start ging, Wermelskirchen spielte aber bereits nach kurzer Zeit ganz oben mit und eroberte schnell die Spitzenposition.
1.200 Quadratmeter Verkaufsfläche war für das Jahr 1970 schon etwas, vor allem, da diese in ein Einkaufszentrum integriert war. Gedacht war der Obi-Markt in Hamburg-Poppenbüttel als Referenzmarkt für ein System, dass in Deutschland noch völlig unbekannt war: Franchising. McDonalds kam erst ein Jahr später nach Deutschland. Wer ein Franchisesystem aufbauen will, der muss etwas vorweisen können, was dem potenziellen Franchisenehmer zeigt, wie Franchising läuft, welche Kosten entstehen und wann der Break Even erreicht ist und Gewinn gemacht wird. Manfred Maus trug damals diese Kernsätze seinen interessierten Kunden wohl wie ein Mantra immer wieder vor.
Dabei tat man sich anfangs damit durchaus schwer. Denn die erwarteten „Kunden“, also Franchisenehmer, kamen nicht einfach so. Maus dachte dabei eigentlich an seine Lux-Kunden, also den Eisenwarenhandel, dem er in Zeiten wahrnehmbarer Handelsumbrüche in Deutschland eine Einzelhandelsperspektive aufzeigen und damit auch eine Zukunft bieten wollte. Das war vielleicht zu progressiv gedacht, hieß dies doch, über seinen eigenen Schatten springen zu können („Selbstbedienung ist des Teufels“) und den Einzelhandel als Ergänzung und nicht als Konkurrenz der eigenen Geschäftstätigkeit zu sehen. Es dauerte und der Aufschwung mit Obi begann mit fünf, sechs Jahren Verspätung so richtig, als der Baustofffachhandel auf den Obi-Zug aufsprang. Bis 1975 kam man auf insgesamt 16 Obi-Standorte, fünf Jahre später waren es dann 76, die Umsätze schnellten von 37,1 (1975) auf über 296 Millionen Mark (1980).
Gleichzeitig mit der frühen Expansion ordnete man die Beteiligungsverhältnisse neu. Manfred Maus „erkämpfte“ sich neben Emil Lux seine Unternehmensbeteiligungen, man arbeitete am Erscheinungsbild der Märkte, auch an der Werbung und richtete zum Beispiel neue Strukturen für die Franchisenehmer ein. Weiterhin wurde das Konzept der Gartenparadiese als grüner Appendix der Männerwelt Baumarkt gerade und speziell für die weibliche Kundschaft entwickelt. Gleichzeitig wurde Obi mit seinen zum Teil unter- und miteinander beteiligten Standorten sowie mit seinen Teil-Franchiselösungen (die Zentrale hält Anteile) aber selbst für die Mitarbeiter in der Wermelskirchener Zentrale immer undurchschaubarer. So wurde zwischenzeitlich einmal sogar unter anderem die Beteiligungsstruktur zum besseren Verständnis auf ein riesiges Bettlaken gemalt.
Der Horizont schien am Anfang der 1980er-Jahre grenzenlos und Hybris schwenkte im Hintergrund seine Fahnen. Ein Projekt in Braunschweig („Grüner Löwe“), ein Lieblingsprojekt eines eigentlich für die EDV zuständigen Obi-Geschäftsführers und Mitgesellschafters, sollte als mehrgeschossiger Innenstadtbaumarkt als zukunftsfähiges Format Geld und Prestige bringen, doch in Wirklichkeit kostete es Millionen – und das über Jahre. Obi, durch die rasche und andauernde Expansion finanziell eh ständig unter Stress, brauchte Hilfe von außen. Und was lange Zeit als undenkbar galt, wurde Wirklichkeit: Tengelmann stieg 1985 ein und schoss ordentlich Geld in die LBM (Anfangsbuchstaben der drei Gesellschafter), dem Mehrheitsgesellschafter der DHH, rein. Die DHH (Deutsche Heimwerkermarkt Holding) fungierte als Dachgesellschaft der Obi-Unternehmensgruppe. Und Tengelmann räumte bei Obi zuerst einmal auf, führte ein modernes Controlling ein, entließ Mitarbeiter. 1985 ging deshalb als „annus horribilis“ (Schreckensjahr) in die Obi-Geschichte ein.
In diesen Jahren entdeckte Obi für sich aber auch ein neues Spielfeld, nämlich die Radio- und Fernsehwerbung. Es fing mit zuerst noch regionaler „Funkwerbung“ im Jahr 1977 an, im Jahr 1979 folgten dann die erste Bandenwerbung bei Sportveranstaltungen und 1987 dann die erste eigenständige TV-Werbung in der ARD. Der Claim „Obi – ein Dutzend Fachgeschäfte in einem“ blieb dabei weniger hängen als der die einzelnen Spots immer abschließende Slogan „… oder bei Obi“. Und wer kennt nicht einige der TV-Sprüche, die im Laufe der Jahrzehnte uns aus dem Fernseher entgegenschallten: „Wie wo was weiß Obi“ oder „Alles bei Obi“, um nur zwei zu nennen?
1990 ging es dann ins Ausland – ins deutsche Ausland. Durch den Prozess der deutschen Wiedervereinigung kam schlagartig ein neuer, jungfräulicher Markt hinzu. Ein Drittel der Wohnungen in der (bald ehemaligen) DDR war 1990 älter als 70 Jahre. Gleichzeitig bezeichneten sich 56 Prozent der ostdeutschen Männer als „passionierte Heimwerker“. Man wolle im Gegensatz zu anderen „keine schnelle Mark machen“, versprach damals Manfred Maus und erntete für diesen Satz prompt Kritik von den Wettbewerbern. Noch wenige Wochen vor der offiziellen Wiedervereinigung machte in Erfurt am 15. September 1990 der erste ostdeutsche Obi-Markt auf. Noch 1990 erfolgte mehr als ein Viertel der Neueröffnungen deutscher Baumarktbetreiber auf ostdeutschem Gebiet, 1992 waren es über 55 Prozent. Die Umsätze schnellten nach oben, die Baumärkte fuhren in Deutschland – wie andere Handelsformate auch – eine Sonderkonjunktur ohne Gleichen.
Der sich ausbildende und immer mehr eine eigene Gestalt gebende europäische Binnenmarkt lenkte den Blick der Obianer zeitgleich auch ins Ausland. Bauhaus war bereits seit 1972 in Österreich aktiv, seit 1988 auch in Dänemark. Doch beim ersten Markteintritt in Italien wurde Obi mehr getrieben, als man Agierender war. Die „große Mutter“ Tengelmann wollte die Flächen des in Italien übernommenen Supermarktbetreibers Superal besser auslasten. Erschwert wurde der Markteintritt dadurch, dass man feststellte, dass Obi in vielen Ländern gar nicht die Markenrechte an seinem Namen hatte. Deshalb machte am 24. Juni 1991 im toskanischen Pontedera auch der erste italienische Obi als „SuperHOBBY“ auf. Die italienischen Märkte gerieten bald in Schieflage. Ein junger Manager wurde verpflichtet, der den ganzen Laden eigentlich verkaufen sollte, dann aber doch rettete und sich damit für höhere Aufgaben empfahl: Sergio Giroldi.
Dennoch: Der Anfang war gemacht. In den 1990er-Jahren folgten noch Ungarn (1994), Tschechien (1995), Österreich (1995), Slowenien (1998) und die Schweiz (1999). Mit dem Ende des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts ging auch so nach und nach die deutsche Sonderkonjunktur zu Ende. Der Wettbewerb nahm zu, ebenfalls die Pleiten der Baumarktbetreiber. Der Markt fing an, sich zu konsolidieren.
Gleichzeitig stand für Obi eine Riesen-Zäsur bevor. Manfred Maus wurde im Jahr 2000 65 Jahre alt und wechselte auch deshalb von der Position des Sprechers der Geschäftsführung an die Spitze des Aufsichtsrates. Seine Nachfolge gestaltete sich aber holperig. Diverse Kronprinzen sprangen schon vorher ab, wurden weggedrängt oder fielen in Ungnade. Harald Lux, Sohn des Firmenmitgründers Emil Lux und bei Obi der CFO, musste deshalb ran. Er hatte jahrzehntelange Erfahrung und war als akribischer Arbeiter bekannt.
Im Jahr 2000 folgte dann die große Überraschung, was die Auslandsexpansion betraf: Obi ging nach China. Der ganz Ferne Osten rief. Im Jahr 2005 erreichte Obi hier seine maximale Standortanzahl von 13 Baumärkten. Seit dem Jahr 2001 bereitete man in Wermelskirchen aber auch den Markteintritt in Russland vor. Im Jahr 2003 wurden im Moskauer Gebiet dann auch gleichzeitig zwei Standorte eröffnet – Willkommen sozusagen im Fernen Osten. Jedoch: Schnell wurde den Verantwortlichen klar, dass man die beiden Expansionsbestrebungen nicht gleichzeitig würde meistern können. Doch Obi hatte Glück. Ausländische Wettbewerber drängten auf den chinesischen Markt und Obi konnte seine dortigen Standorte so gut verkaufen, dass man die Expansion in Russland quasi aus der Portokasse bezahlen konnte. Der russische Markt entwickelte sich – bis auf wenige Ausnahmejahre – in der Folge prächtig.
Was im Ausland auch immer gelang, im Inneren knirschte es. Die für das Jahr 2000 vorgesehene Umstrukturierung der Obi-Organisation („Plan 2000“) scheiterte krachend. Der Vorstand sei danach „angeschossen“ gewesen, erinnert sich ein Obi-Verantwortlicher. Hinzu kam, dass Tengelmann-Chef Karl-Erivan Haub bekannt gab, für Obi einen strategischen Partner suchen zu wollen. Geraunt wurde der Name Kingfisher. Doch der Deal scheiterte und Kingfisher hielt nach neuen Beteiligungsmöglichkeiten Ausschau (Hornbach). Am 14. Mai 2003 wurde dann bekannt gegeben, dass Obi einen neuen Chef hatte – eben Sergio Giroldi, der in Italien so erfolgreich war und der bei Obi bereits für das Europa-Geschäft verantwortlich zeichnete. Er sollte, so waren die Vorgaben, Obi für Tengelmann verkaufen. Doch erneut konnte Giroldi die Muttergesellschaft von den Qualitäten der Tochter überzeugen – Hauptsache, die Rendite stimmt.
Die Jahre danach erfüllte Obi zwar stets die Erwartungen der Muttergesellschaft, intern geriet man aber in schweres Fahrwasser. Über die Jahre war einfach zu viel liegen geblieben, das Management harmonierte mehr schlecht als recht, die Strukturen entsprachen einfach nicht mehr den Erfordernissen eines europaweit agierenden Handelshauses. Bereits angestoßene Projekte wurden wieder gekippt (Payback, Obi@Otto etc.). Auch zwischen der Zentrale und den Franchisenehmern knirschte es vernehmlich. Giroldi war unter anderen der Auffassung, dass Wermelskirchen mehr Durchgriffsrechte brauchte, um Obi schneller und flexibler führen zu können. Außerdem ging es, wie üblich, um das liebe Geld. Die Franchisenehmer probten teilweise den Aufstand, die größte Gruppe verließ dann auch Obi.
Die internen Probleme sind auch an den Umsätzen in den Jahren 2011, 2013 und 2015 zu erkennen: Diese stagnieren in diesen Jahren bei 6,7 Milliarden Euro. Man habe alles versucht, diesen Teil der Franchisenehmer zu halten, mehr war nicht aus Wermelskirchen dazu zu hören. Es ist auch schwer, die Marke und die Farbe des Unternehmens für die Kunden nachvollziehbar einfach mal so auszutauschen. Ein starkes Alternativangebot haben die Franchisenehmer ja nicht.
Insgesamt setzte Obi danach darauf, stärker zu filialisieren statt zu franchisesisieren. Grund dafür war auch ein in den 2010er-Jahren immer stärker wahrgenommener Wettbewerb seitens der Online-Händler, allen voran Amazon. Äußerte sich Giroldi um das Jahr 2014 noch eher skeptisch, was die Wettbewerbssituation mit Amazon und Co. betraf, so scheint Obi heute den Kampf aufgenommen zu haben. Kunde, Kunde, Kunde – das war schon früher das Kernthema von Giroldi und ist es heute fast noch mehr. Absolute Kundenfokussierung steht auch im Mittelpunkt der neu gegründeten strategischen Einheit „Obi next“ in Köln. Das heißt, Fokussierung darauf, welche Produkte und Sortimente, aber auch welche Beratungs- und Handwerksleistungen der Kunde wirklich braucht und will.
Corona hat Obi, wie die meisten anderen deutschen Baumarktbetreiber auch, bisher hervorragend, ja sogar außerordentlich gut gemeistert. Obi hat also eigentlich allen Grund, trotz Covid-19 zu feiern. 1970 bis 2020: 50 Jahre Obi. Das Handelsunternehmen hat in dieser Zeit nur drei CEOs gehabt – wo gibt es das sonst? Im August 2020 hat Sergio Giroldi seinen Vertrag noch einmal verlängert. Er ist jetzt in dem Alter, in dem Manfred Maus im Jahr 2000 auch war, als dieser in den Aufsichtsrat wechselte. Der Vorstand von Obi wurde zwischenzeitlich von zwei auf sieben Köpfe vergrößert. Mal schauen, ob sich darunter auch Giroldis Nachfolger befindet.
Dr. Joachim Bengelsdorf